Warum war die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs erforderlich?
 

Der Pflegebedürftigkeitsbegriff, der dem Begutachtungsverfahren bis Ende 2016 zugrunde lag, war vor allem auf körperliche Einschränkungen bezogen. Gerontopsychiatrische und psychische Beeinträchtigungen wurden dagegen nur sehr eingeschränkt berücksichtigt. Deshalb bekamen Menschen mit demenziellen Erkrankungen heute vergleichsweise geringe Leistungen aus der Pflegeversicherung. Das wurde mit der Pflegereform 2017 grundlegend geändert. Körperliche, kognitive und psychische Beeinträchtigungen werden nun gleichermaßen und umfassend berücksichtigt. Dadurch erhalten die Menschen, die bisher benachteiligt waren, einen besseren Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung.

Wie hat sich die Begutachtung geändert?
 

Mit dem Pflegestärkungsgesetz II wurde zum 1. Januar 2017 der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Pflegeversicherung eingeführt. Dadurch hat sich das Begutachtungsverfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit grundlegend verändert – Maßstab ist der Grad der Selbstständigkeit des Pflegebedürftigen. Bei der Begutachtung kommt es nicht mehr darauf an festzustellen, wie viele Minuten Hilfebedarf ein Mensch beim Waschen und Anziehen oder bei der Nahrungsaufnahme hat. Im Mittelpunkt steht jetzt die Frage, wie selbstständig der Mensch bei der Bewältigung seines Alltags ist – was kann er und was kann er nicht mehr? Dazu werden seine Fähigkeiten umfassend in allen Lebensbereichen begutachtet: Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen und Belastungen, Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte.

Was wurde aus den bisherigen Pflegestufen?
 

Bis zum 31. Dezember 2016 galten die bisherigen drei Pflegestufen in der Pflegeversicherung. Seit dem 1. Januar 2017 gibt es fünf Pflegegrade, was eine differenzierte Einschätzung des benötigten Pflegeaufwandes ermöglicht. Die bisherigen Pflegestufen wurden in die jeweiligen Pflegegrade übergeleitet.

Wonach wird beurteilt, ob ein Mensch pflegebedürftig ist?
 

Maßgeblich für das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit sind die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten in den
nachfolgenden sechs Bereichen:

1. Mobilität Wie selbstständig kann der Mensch sich fortbewegen und seine Körperhaltung ändern?
2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten Wie findet sich der Mensch in seinem Alltag örtlich und zeitlich zurecht? Kann er für sich selbst Entscheidungen treffen? Kann die Person Gespräche führen und Bedürfnisse mitteilen?
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen Wie häufig benötigt der Mensch Hilfe aufgrund von psychischen Problemen, wie etwa aggressives oder ängstliches Verhalten?
4. Selbstversorgung Wie selbstständig kann sich der Mensch im Alltag selbst versorgen bei der Körperpflege, beim Essen und Trinken?
5. Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen Welche Unterstützung wird benötigt beim Umgang mit der Krankheit und bei Behandlungen? Zum Beispiel Medikamentengabe, Verbandswechsel, Dialyse, Beatmung?
6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte Wie selbstständig kann der Mensch noch den Tagesablauf planen oder Kontakte pflegen?

Aufgrund einer Gesamtbewertung aller Fähigkeiten und Beeinträchtigungen erfolgt die Zuordnung zu einem der fünf Pflegegrade.

Wie errechnet sich der jeweilige Pflegegrad?
 

Die Zuordnung zu einem Pflegegrad erfolgt anhand eines Punktesystems. Dazu werden in den sechs Bereichen Mobilität (1), kognitive und kommunikative Fähigkeiten (2), Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (3), Selbstversorgung (4), Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen oder Belastungen (5), Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte (6), die jeweils mehrere Einzelkriterien enthalten (zum Beispiel: Essen oder Trinken), für jedes erhobene Kriterium Punkte vergeben. Die Höhe der Punkte orientiert sich daran, wie sehr die Selbstständigkeit eingeschränkt ist oder die Fähigkeiten nicht mehr vorhanden sind. Grundsätzlich gilt: Je höher die Punktzahl, desto schwerwiegender die Beeinträchtigung.

Die innerhalb eines Bereiches für die verschiedenen Kriterien vergebenen Punkte werden zusammengezählt und gewichtet. Denn entsprechend ihrer Bedeutung für den Alltag fließen die Ergebnisse aus den einzelnen Bereichen unterschiedlich stark in die Berechnung des Pflegegrades ein. Beispielsweise der Bereich „Selbstversorgung“ mit 40 Prozent oder der Bereich „Mobilität“ mit 10 Prozent. Die Gewichtung bewirkt, dass die Schwere der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten von Personen mit körperlichen Defiziten einerseits und kognitiven oder psychischen Defiziten andererseits sachgerecht und angemessen bei der Berechnung des Gesamtpunktwertes berücksichtigt werden. Aus dem Gesamtpunktwert wird das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit bestimmt und der Pflegegrad abgeleitet.

Eine Besonderheit besteht darin, dass entweder der Bereich 2 (Kognitive und kommunikative Fähigkeiten) oder der Bereich 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) in die Berechnung des Gesamtpunktwertes eingeht. Gewertet wird der Bereich mit den höheren Punkten.

Wann liegt Pflegebedürftigkeit vor?
 

Pflegebedürftigkeit liegt vor, wenn der Gesamtpunktwert mindestens 12,5 Punkte beträgt. Der Grad der Pflegebedürftigkeit bestimmt sich wie folgt: 

Pflegegrad 1: 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkte geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten
Pflegegrad 2: 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkte erhebliche Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten
Pflegegrad 3: 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkte schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten
Pflegegrad 4: 70 bis unter 90 Gesamtpunkte schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten
Pflegegrad 5: 90 bis 100 Gesamtpunkte schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung

Pflegebedürftige Kinder im Alter bis zu 18 Monaten werden pauschal einen Pflegegrad höher eingestuft.

Pflegebedürftige, die einen spezifischen, außergewöhnlich hohen personellen Unterstützungsbedarf mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung aufweisen, werden unabhängig vom Erreichen des Schwellenwertes von 90 Punkten dem Pflegegrad 5 zugeordnet. Diese sogenannte besondere Bedarfskonstellation liegt nur beim vollständigen Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen vor.

Wie erfolgte der Übergang vom alten auf das neue System?
 

Alle Personen, die bereits 2016 Leistungen aus der Pflegeversicherung bezogen, wurden durch ihre Pflegekasse automatisch von ihrer Pflegestufe in den jeweiligen Pflegegrad übergeleitet. Und zwar nach folgender Grundregel:
Versicherte mit körperlichen Einschränkungen wurden in den nächsthöheren Pflegegrad übergeleitet: Also von Pflegestufe I in Pflegegrad 2, von Pflegestufe II in Pflegegrad 3 und von Pflegestufe III in Pflegegrad 4.
Menschen mit einer Beeinträchtigung der Alltagskompetenz wurden in den übernächsten Pflegegrad übergeleitet: Also von Pflegestufe 0 in Pflegegrad 2, von Pflegestufe I in Pflegegrad 3, von Pflegestufe II in Pflegegrad 4 und von Pflegestufe III in Pflegegrad 5.

Wie hoch sind die Leistungen in den einzelnen Pflegegraden (PG) seit 1. Januar 2017?
Die Hauptleistungsbeträge sind wie folgt (in Euro)

PG

PG 1

PG 2

PG 3

PG 4

PG 5

Geldleistung ambulant

*

316

545

728

901

Sachleistung ambulant

*

689

1.298

1.612

1.995

Entlastungsbetrag ambulant (zweckgebunden)

125

125

125

125

125

Leistungsbetrag stationär

125

770

1.262

1.775

2.005

* Pflegebedürftige in PG 1 erhalten u.a. Pflegeberatung, Beratung in eigener Häuslichkeit, Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, Zuschüsse zur Verbesserung des Wohnumfeldes.

Wonach beurteilt sich die Pflegebedürftigkeit von Kindern?
 

Die Feststellung von Pflegebedürftigkeit bei Kindern folgt grundsätzlich den gleichen Prinzipien wie bei Erwachsenen. Auch bei Kindern beurteilt sich die Pflegebedürftigkeit danach, wie selbstständig ein Kind ist und in welchem Umfang Fähigkeiten vorhanden sind. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass Erwachsene im Laufe ihres Lebens durch Krankheit und Behinderung Fähigkeiten und Selbstständigkeit verlieren, Kinder hingegen müssen Fähigkeiten und Selbstständigkeit erst schrittweise entwickeln.

Bei der Beurteilung von Pflegebedürftigkeit von Kindern werden die Selbstständigkeit bzw. die Fähigkeiten des pflegebedürftigen Kindes mit denen eines gesunden, gleichaltrigen Kindes verglichen. Dieser Beurteilungsgrundsatz gilt grundsätzlich für Kinder aller Altersgruppen.

Eine Ausnahme bilden pflegebedürftige Kinder im Alter von bis zu 18 Monaten. Kinder dieser Altersgruppe sind von Natur aus in allen Bereichen des Alltagslebens unselbstständig, so dass sie in der Regel keine oder nur niedrige Pflegegrade erreichen könnten. Um sicherzustellen, dass auch diese Kinder einen fachlich angemessenen Pflegegrad erlangen können, werden zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit die altersunabhängigen Bereiche 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) und 5 (Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) herangezogen. Außerdem ist die Frage zu beantworten, ob gravierende Probleme bei der Nahrungsaufnahme bestehen, die einen außergewöhnlichen pflegeintensiven Hilfebedarf im Bereich der Ernährung auslösen. Darüber hinaus sieht eine Sonderregelung vor, Kinder im Alter von bis zu 18 Monaten pauschal einen Pflegegrad höher einzustufen, als bei der Begutachtung festgestellt. In diesem Pflegegrad können sie ohne weitere Begutachtung bis zum 18. Lebensmonat verbleiben. Nach dem 18. Lebensmonat werden diese Kinder älteren Kindern und Erwachsenen in der Bewertung gleichgestellt.

Ab einem Alter von elf Jahren kann ein Kind in allen Bereichen, die in die Berechnung des Pflegegrads eingehen, selbstständig sein. Für Kinder in diesem Alter gelten dann dieselben pflegegradrelevanten Berechnungsvorschriften wie bei Erwachsenen.

Was hat sich beim Zugang zur medizinischen Rehabilitation geändert?
 

Der Vorrang von Prävention und Rehabilitation vor Pflege wurde bereits zum 1. Januar 2016 nochmals gestärkt. Bis dahin sprachen die Gutachter bei der Pflegebegutachtung Empfehlungen zur medizinischen Rehabilitation aus. Dies wurde um Empfehlungen zur Prävention erweitert. Das bedeutet für das Begutachtungsverfahren, dass die Gutachter eine Aussage darüber zu treffen haben, ob in der häuslichen Umgebung oder in der Einrichtung, in der der Pflegebedürftige lebt, präventive Maßnahmen empfohlen werden können. Sie müssen auch klären, ob Beratungsbedarf zu primärpräventiven Maßnahmen besteht. Primärpräventive Maßnahmen sind z.B. Gruppenangebote zur Sturzprävention oder zur Beseitigung von Mangel- oder Fehlernährung. Die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs erfolgt bei der Pflegebegutachtung in allen Medizinischen Diensten auf der Grundlage eines bundeseinheitlichen, strukturierten Verfahrens, dem sogenannten optimierten Begutachtungsstandard.

Was hat sich bei der Beratung geändert?
 

Der Stellenwert der Pflegeberatung wurde ebenfalls zum Januar 2016 gestärkt. Damit werden Pflegebedürftige und ihre Angehörigen besser darin unterstützt, die Leistungen aus der Pflegeversicherung nach ihren Bedürfnissen und Wünschen zusammenzustellen. Hierfür bieten die Pflegekassen jedem, der einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung stellt, innerhalb von zwei Wochen eine Pflegeberatung an. Die Pflegekassen benennen feste Ansprechpartner für die Pflegeberatung vor Ort. Ebenfalls seit 2016 haben nicht nur die Pflegebedürftigen sondern auch die Angehörigen einen Anspruch auf Pflegeberatung durch die Pflegekassen und erhalten damit mehr Unterstützung wenn es um die Organisation der Pflege geht. Außerdem sollen die verschiedenen Beratungsangebote, die es regional für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen gibt, besser aufeinander abgestimmt werden.

Dokumente zum Thema

  • Fragen und Antworten zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff als PDF-Datei

    Info-Papier

    Download PDF (498 KB)

  • Das neue Begutachtungsinstrument: Die Selbstständigkeit als Maß der Pflegebedürftigkeit

    Fachinformation

    Die Broschüre erläutert ausführlich und anhand von Fallbeispielen das neue Begutachtungsinstrument mit dem ab 1. Januar 2017 der Grad der Pflegebedürftigkeit festgestellt wird. Darüber hinaus werden auch Fragen zum Begutachtungsverfahren erläutert.

    Download PDF (1,13 MB)

  • Das neue Begutachtungsinstrument: Die Selbstständigkeit als Maß der Pflegebedürftigkeit (Kurzfassung)

    Fachinformation

    Kurzfassung der Fachinformation "Die Selbstständigkeit als Maß der Pflegebedürftigkeit" auf 7 Seiten. Diese Version richtet sich vor allem an Ärzte und medizinisches Personal.

    Download PDF (312 KB)

  • Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI vom 22.03.2021. Barrierefrei

    Richtlinien / Grundlagen der Begutachtung

    Die Bestellmenge der Broschüre ist auf 3 Stück pro Kunde beschränkt.

Ihre Ansprechpersonen

Dr. Andrea Kimmel

Dr. Andrea Kimmel

Beratung Pflegeversicherung
Tel: +49 201 8327 410
E-Mail:

Bernhard Fleer

Bernhard Fleer

Teamleiter Pflegebegutachtung
Tel: +49 201 8327-168
E-Mail:

Letzte Änderung:

03.01.2022